Hilfsbereitschaft

Die überwältigende Hilfsbereitschaft bei der Flüchtlingswelle hatte viele überrascht – und nicht wenige vermuteten eine Art wenig altruistischen Rausch an der eigenen Güte. Wieso halfen bei der Flüchtlingskrise so viele Menschen? Und wieso helfen wir sonst weniger?

 

Die Psychologie hat zur Forschung, wieso Menschen helfen, verschiedene Ansätze, die wie meistens auf teils angeboren - teils anerzogen herauslaufen. Interessant ist dabei das Ergebnis einer Studie, dass Menschen eher dazu neigen Unfallopfern auf der Autobahn zu helfen, wenn sie davor gesehen haben wie ein anderer einem Unfallopfer hilft. Bei Hilfeleistung spielt Vorbild eine große Rolle. Da das auch im Erwachsenenalter noch funktioniert und nicht vor allem in der Kindheit durch Lernen-am-Modell etabliert wird, ist der Schluss wohl erlaubt, dass prosoziales Verhalten in uns angelegt ist (ob anerzogen oder erlernt), und in der konkreten Situation quasi nur aktiviert werden muss durch das Bild eines helfenden Beispiels.

 

Das kann sicher einen Teil der Sogwirkung bei der Hilfe für Flüchtlinge erklären. Normalerweise kann man Hilfeleistung recht gut vorhersagen durch Kosten-Nutzen-Modelle: die Menschen sind im Schnitt eher bereit zu helfen, wenn der erwartete Nutzen für sie groß ist (soziale Anerkennung oder Gegenleistung) und die Kosten gering. Das scheint allerdings bei der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge nur noch bedingt zu greifen. Viele helfen bis an den Rand der Erschöpfung, und hätten sehr viel mehr soziale Anerkennung, wenn sie anstatt zu arbeiten oder das Risiko einzugehen völlig Fremde bei sich in der Wohnung aufzunehmen, ein paar Fotos von sich und den Flüchtlingen in den sozialen Netzwerken verbreiten würden, wie Politiker das tun.
 

Das Kosten-Nutzen-Modell erklärt hier also die große Hilfsbereitschaft nicht. Geht man davon aus, der evolutionspsychologische Ansatz ist zutreffend, dass prosoziales Handeln in uns angelegt ist, um das Überleben der Spezies Mensch zu sichern, muss man sich anschauen, wieso wir sonst so oft nicht helfen. Das Eine ist Verantwortungsdiffusion. Die besagt, wenn ein Mensch allein in einer Situation ist, in der ein anderer Hilfe benötigt, hilft er eher, als wenn viele anwesend sind, auch wenn von denen keiner hilft. Man fühlt sich in einer Gruppe von Herumstehenden nur zum Teil verantwortlich, die Verantwortung wird sozusagen durch die Anwesenden geteilt und das Gefühl  „Es kommt auf mich an!“ minimiert sich auf beispielsweise „Es kommt auf mich nur zu einem Achtel an!“. Je mehr Anwesende desto weniger Verantwortungsübernahme des Einzelnen.

Das Zweite ist, dass Menschen Angst haben sich zu blamieren, wenn sie helfen. Helfen bedeutet ja auch Eingreifen, dem Gang der Dinge in den Arm fallen. Man hat Angst etwas falsch zu machen, die Situation zu verschlimmern, Wissens- oder Kompetenzlücken zu offenbaren, Schwächen zu zeigen. Beides, die Verantwortungsdiffussion wie die Angst sich zu blamieren werden vermutlich abgeschwächt durch das oben genannte Vorbild, durch die vielen anderen, die in der Flüchtlingskrise helfen. So in der Art von: Offenbar muss ich kein arabisch können, um helfen zu können und es sind ja sicher auch professionelle Helfer dabei, die mir dann schon sagen, was ich tun muss oder ich mach einfach das Gleiche wie alle anderen.

Als ich heute beim Einkaufen über dieses Thema nachdachte und den Mineralwasserkasten durch den Eingangsbereich des Hauses schleppte, in dem meine Praxis ist, kam mir durch eine schwere Glastür eine junge Frau entgegen, grüßte und ging die Treppe hoch. Auf halber Treppe blieb sie stehen, drehte sich um und fragte hastig: „Müssen Sie durch die Tür?“ Bereit, die Treppe wieder runterzuspringen und mir die Tür aufzuhalten. Ich antworte: „Nein!“ Sie schien erleichtert und ging weiter. „Das ist wieder typisch“, dachte ich, „Frauen sind in den kleinen Alltagssituationen extrem hilfsbereit.“

Sieht man sich die Filme zu den wissenschaftlichen Versuchen an, ist es schon fast komisch, wie eilfertig Frauen alten Menschen nachrennen, die etwas fallengelassen haben. Und Männer gehen noch pfeif-ein-Lied vorbei, wenn sich jemand völlig hilflos mit einem zu schweren Teil verkantet hat. Fragt man die Männer nach dem Versuch, wieso sie nicht geholfen haben, sagen sie, sie hätten es entweder nicht gesehen oder nicht realisiert, dass sie zuständig sein könnten. Das ist vermutlich keine faule Ausrede, denn Männer helfen sofort, sobald man sie anspricht. Sie brauchen einfach eine klare Ansage. Es ist wohl kein Zufall, dass das Militär, in dem sehr klare Ansagen vorherrschen (= Befehle), von Männern erdacht wurde ^^.

Und so mitdenkend und hilfsbereit Frauen in alltäglichen Situationen sind, so sehr weichen sie zurück, sobald es gefährlich wird. Sie scheinen nicht das Gefühl zu haben, jemanden retten zu müssen oder zu können. Männer sind viel hilfsbereiter in gefährlichen Situationen, da merken sie, dass Hilfe erforderlich ist.

Eine Ausnahme gibt es: Frauen scheuen keine Gefahren, wenn es um Kinder geht (nicht nur bei ihren eigenen). Es gibt die sehr berührende Szene in dem Film „Schindlers Liste“ als die inhaftierten Frauen im KZ ungeachtet der Wachleute die Zäune einrennen, als Kinder abtransportiert werden. Die Szene ist historisch verbürgt und kann aus der psychologischen Forschung nur bestätigt werden: Wenns um Kinder geht, kennen Frauen keine Gefahren, achten beim Helfen nicht mehr auf Konsequenzen für sich selbst. Selbst im Straßenverkehr: Steht ein Mann höchst gefährdet auf der Fahrbahn, scheint die Frau zu denken: „Schlimm schlimm!“ Da zuckt nichts. Steht da ein Kind, rennt sie auch noch direkt vor ein Auto, um es zu retten.

Nicht wenige Frauen werden bei den Flüchtlingsströmen einen besonders starken Hilfeimpuls den Flüchtlingskindern gegenüber verspürt haben (ich gebe zu, ich auch). Und die Männer hatten eine klare Ansage: Hilfe wird gebraucht, jede Hilfe, DEINE Hilfe.

Generell helfen Menschen bereitwilliger je näher ihnen der Mensch ist, sei es Familie, Freunde oder Bekannte. Genau mit dem Maß der Nähe steigt oder sinkt die Hilfsbereitschaft. Ist keine Nähe gegeben, geht es darum wieviel Empathie man dem in Not Geratenen entgegen bringt. Das hängt  (abgesehen von der individuellen Ausprägung zum Altruismus) nach Studien entscheidend davon ab, inwieweit wir annehmen, dass die Notlage vom anderen selbst verschuldet ist. Das geht so weit, dass man Rauchern und Dicken im Schnitt weniger Mitgefühl entgegenbringt, weil man denkt sie seien selbst Schuld - unabängig davon, ob das stimmt oder nicht. In der Forschung sieht man ungesundes Verhalten eher als Kompensation von schwierigen Umständen.
Bei Aids variiert das Mitgefühl genau danach, ob der Betreffende glaubt, Aids zu bekommen, hätte etwas mit einem selbst verschuldeten Lebensstil zu tun oder nicht.

Und auch bei der Hilfsbereitschaft Asylbewerbern gegenüber lässt sich beobachten: Wer glaubt die Ankommenden seien zum Teil Wirtschaftsflüchtlinge (eigenes Risiko  à selbst Schuld!), ist weniger bereit zu helfen. Tatsächlich wissen wir nie, wer woran wieviel Schuld hat, aber wir wissen, jeder kann in Not geraten. Jeder, das heißt auch, wir selbst.

Wir hatten die gleiche Hilfsbereitschaft beim Elbehochwasser und beim Tsunami.  Die Menge der Helfenden hat die in uns angelegte Hilfsbereitschaft aktiviert und Hemmungen genommen, es waren Männer, Frauen und Kinder betroffen. Es war deutlich, dass jede Hilfe gebraucht wird. Und: Es hätte jeden treffen können. Auch uns. 

 

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© Christine Quindeau