Wert-Schätzung

 

 

Auch wenn kaum jemand den Muttertag ignoriert, sind bei vielen die Gefühle doch zwiespältig. Mütter, so finden die meisten, brauchen keine Gedichte und Blumen, sondern gute Kita-Plätze, verständige Arbeitgeber, Kindergeld, Väter, die zu Hause bleiben und eine Rente, von der man leben kann. Aber soll man nur, weil man die großen Mängel nicht beheben kann, die Wertschätzung des Muttertags boykottieren?


Was wertschätzt man denn eigentlich? Zunächst mal viel Arbeit. Rechnet man sich aus, wie viele Teller, Becher und Besteck gespült werden pro Tag auf 20 Jahre gerechnet, kommt man auf frappierende Zahlen und sieht geradezu, wie sich Berge mit schmutzigem Geschirr auftürmen, das Gleiche bei der Wäsche, den zubereiteten Mahlzeiten, den geputzten Räumen u.v.m.


Das ist sozusagen der Grundservice. Dazu kommt der Begleitservice, der alle Hilfstätigkeiten für die kindliche Bildung umfasst. Kuchenbacken für Kindergartenfeste, zum Musikunterricht fahren und abholen, am Wochenende auf Sportplätzen den Nachwuchs anfeuern, Laternen für den Martinszug basteln, auf Anordnung der Lehrerin alle Stifte für die Schule mit dem Namen des Kindes einzeln beschriften, auf Elternabende gehen. Extra Hausschuhe und Gummistiefel für die Schule besorgen und eine Sticknadel (stumpf), lila Perlgarn und ein Stück Jute, was man allerdings erst um acht Uhr abends mitgeteilt bekommt.

 

„Jetzt hab ich doch glatt unterlassen, einen Vorrat für alle Fälle an lila Perlgarn anzulegen!!“ wird sich die Mutter in komischer Verzweiflung denken. „Mama, aber ich brauch das morgen…“, sagt das Kind, das nicht weiß, dass spezielle Handarbeitsmaterialien nicht genau so leicht zur Verfügung stehen wie Apfel, Messer und ein Schneidebrett, die es das letztes Mal in die Schule mitbringen sollte.

Und an dem Punkt, an dem die Mutter realisiert, dass das Kind noch geglaubt hat, die Mutter sei eine Art Zauberfee, die alles, was man braucht, selbstverständlich aus irgendeiner Schublade hervorholen kann, und durch diese Einsicht in die kindliche Vorstellung angemessen reagiert, kommen wir zu dem Service, der psychologisch interessant ist, nämlich zur guten Mutter-Kind-Beziehung. Sie bewirkt nach Studien tatsächlich Unglaubliches.

Dass Kinder mit einer guten Beziehung zu ihrer Mutter ein besseres Selbstkonzept haben als andere, kann man sich noch leicht vorstellen. Das gute Selbstkonzept bewirkt wiederum bessere Sozialbeziehungen, später weniger Drogenkonsum, ein geringeres Risiko straffällig zu werden und mehr beruflichen Erfolg. Das ist schon sehr beachtlich. Aber die gute Mutter-Kind-Beziehung ist auch ein Schutzfaktor vor Missbrauch. Auch das kann man sich erklären, obwohl es zunächst unzusammenhängend wirkt. Zum einen wird ein Kind, das einen guten, vertrauensvollen Kontakt zu seiner Mutter hat, eher erzählen, wenn sich jemand seltsam ihm gegenüber benommen hat. Zum anderen wird das Kind für die emotionale Aufmerksamkeit, die Pädophile Kindern geben, nicht so empfänglich sein, wenn es genug liebevolle Aufmerksamkeit von den Eltern erhält.


Aber: Kinder mit einer positiven Mutter-Beziehung sind im Schnitt auch noch intelligenter als andere. Das ist dann doch überraschend. Tatsächlich ist der Grund dafür noch nicht erforscht. Vielleicht bieten Mütter mit einer guten Beziehung zu ihrem Kind mehr geeignete Lernanreize. Und man kann sich von der anderen Seite einem Erklärungsversuch annähern, nämlich durch die Studien, in denen festgestellt wurde, dass Kinder, die geschlagen werden, eine geringere kognitive Leistungsfähigkeit haben. Das liegt an der Ausschüttung der Stresshormone, die durch die Unsicherheit und die Angst vor dem Geschlagenwerden entstehen, die die Hirnfunktionen stören. So kann man sich vorstellen, dass wenn sich ein Kind immer sicher und geliebt fühlt, keine Störungen hemmen und bestimmte Abläufe funktionaler werden.
 

Nun hat nicht jede Mutter eine gute Beziehung zu ihrem Kind. Auch Mütter sind nur Menschen. Manche Mütter sind überfordert, manche sind egoistisch. Auch Mütter schlagen und vernachlässigen. Es ist viel verlangt, das eigene Leben mit Beruf und Partnerschaft immer im Griff zu haben und so ausgeglichen zu sein, dass man gut aufs Kind reagieren kann. Da muss die Gesellschaft mehr zusammenhelfen. In meiner Arbeit in der Klinik hab ich ganz überwiegend verantwortungsbewusste, liebevolle und feinfühlige Mütter kennengelernt, aber wieviel sie selbstverständlich leisten, sieht man am ehesten, wenn man auch das Gegenteil erlebt.

 

So wie eine Mutter, die den Krankenschwestern, als sie zum dritten Mal bei ihr angerufen hatten, mitteilte sie könne jetzt immer noch nicht ins Krankenhaus zu ihrem Sohn kommen, sie müsse noch ihren Kaffee austrinken. Die Krankenschwestern kochten bereits vor Wut am Samstag über viele Stunden dreimal telefonisch vertröstet zu werden, wann die Mutter sich in der Lage sieht, sich in Bewegung zu setzen.

Das Ergebnis des Gesprächs, das ich mit ihrem Sohn hatte, erfreute sie nicht, als sie endlich da war. Sie schimpfte. Immer ginge es um ihn und nie um sie. Es reiche ihr. Sie stampfte mit dem Fuß auf. Sie schrie, sie habe jetzt genug, jetzt solle sich mal jemand anders um ihn kümmern: ich könne ihn der Fürsorge übergeben.

 

Sie rannte den Gang entlang Richtung draußen. Ich war eine Sekunde wie vom Donner gerührt und schrie dann den Krankenschwestern in Sichtweite zu: „Aufhalten, aufhalten!!“ und rannte hinterher. Es war wie im Slapstick. Die Krankenschwestern warfen sich ihr beherzt in den Weg und hielten sie auf, bis ich da war. Ich sagte: „Stopp! Sie können ihren Sohn nicht aufgeben, er ist kein Hobby, er braucht sie!“ Sie schrie: „Ich hab genug Probleme mit meinem Freund! Genug eigene Sorgen!“ Ich sagte: „Ihr Freund kann sich um sich selbst kümmern, Ihr Sohn kann es nicht!“

Kurze Zeit später hatte sie sich beruhigt, wir hatten ein gutes konstruktives psychologisches Gespräch.

Aber allein an der Verblüffung, die es auslöst, wenn sich eine Mutter nicht (mehr) bemüht, sieht man wie selbstverständlich man davon ausgeht, dass Mütter immer ihr Bestes tun. Und dass sie wie jeder andere mal darauf angewiesen sein können, dass jemand zu ihnen sagt: „So geht es nicht!“ wie die großartigen Krankenschwestern es ganz natürlich als Selbst-Mütter taten. Doch auch, wenn man das Verhalten der Mutter kritikwürdig findet, muss man fairnesshalber bedenken: an ihr blieb es hängen. Der Vater des Jungen kam gar nicht erst in die Situation. Er wurde nicht von zwei Krankenschwestern und einer Psychologin aufgehalten, als er seinen Sohn verließ. Er ist lang davor einfach gegangen.  

 

Ja was wertschätzen wir eigentlich am Muttertag, was ist uns eine gute Erziehung wert? Was sind uns Kinder wert, die besser vor Missbrauch geschützt sind und später ein geringeres Risiko haben Drogen zu nehmen und straffällig zu werden, die möglichst intelligent und beruflich erfolgreich sind und ein positives Selbstkonzept haben?

Ein Kita-Platz kostet den Staat 1.000 Euro pro Monat. Wenn man bedenkt, dass die Kita ein Drittel der Betreuungszeit eines Tages übernimmt, liegt der Wert der Betreuung eines Kleinkindes bei 3.000 Euro im Monat. Eines Kleinkindes. Das würde wohl jede Mutter als angemessene Wertschätzung empfinden. Und auch die Väter würden sich vermutlich mehr kümmern, wenn nicht nur die Erziehung in Einrichtungen, sondern auch die elterliche vergütet wäre.

 

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© Christine Quindeau