Oft erstaunt uns, mit welchen offensichtlichen psychischen Erkrankungen sich Prominente in der Öffentlichkeit bewegen und damit Erfolg haben. Bei vielen springen gestörte Persönlichkeitsstrukturen wie Narzissmus oder die Unfähigkeit zum Perspektivwechsel geradezu ins Auge. Der Psychotherapeut Manfred Lütz behauptet: „Wir behandeln die Falschen!“ Dass ein Buch mit diesem Titel ein Bestseller wurde, zeigt, dass viele schon mal einen ähnlichen Verdacht hatten.
Überraschen kann einen das nicht, man weiß ja, dass Menschen mit psychopathischen Persönlichkeitszügen überproportional die Gesellschaft bestimmen und Spitzenkarrieren machen. Nicht nur bei
Schauspielern und Sängern, denen man eine gewisse Neigung zur „Rampensau“ nachsieht, auch bei Politikern und Führungskräften, die oft Menschen und Freundschaften opfern bis sie eine Spitzenposition
haben, ist die Eigenliebe überproportional ausgeprägt. Aber selbst der kulturelle Elfenbeinturm, die Welt der Wissenschaft, Oper und Literatur wird beherrscht von persönlichen Hahnenkämpfen,
Schmähungen und dem unbedingten Streben, dass eigene Ich zu feiern. Wieso ist das so? Wieso sind so viele Führungskräfte und Prominente persönlichkeitsgestört?
In der Persönlichkeitsstörung Narzissmus sind Merkmale enthalten, die einen auf „Spur halten“. Wenn man, wie es für Narzissten typisch ist, den eigenen Selbstwert überhöht, neigt man weniger zu
Versagensgefühlen (die Mitmenschen sind schuld, wenn etwas schief geht). Wenn man keine Empathie empfindet, lässt man sich nicht so leicht von unsozialen Handlungen abbringen, die der eigenen Aufgabe
oder Person nützen könnten. Wenn man keinen Perspektivwechsel kann, also sich nicht in die Lage seiner Mitmenschen hineindenkt, ist man nicht nur festgefahrener im Ich, sondern auch
zielstrebiger.
Uns ist durchaus klar, dass man als ewiger Zauderer oder Bedenkenträger zu nichts kommt. Mit einigen Persönlichkeitsstörungen hat man normale, soziale Hemmungen oder ambivalente Gedanken schon durch
die Erkrankung minimiert.
Auch die Struktur unserer Arbeitsverhältnisse, die Regeln im Aufstieg kommen Narzissten entgegen: Eine erfolgreiche Karriere ist nur möglich, wenn man nicht wegen anderer Menschen eine Zeit
lang weniger gearbeitet hat. Selbst in sozialen Berufen werden einige Jahre Teilzeitarbeit wegen Kindererziehung oder sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern, dazu führen später mal als
schlechter qualifiziert denen gegenüber zu gelten, die durchgehend ganztags gearbeitet haben. Wir haben insgesamt in der Gesellschaft einen Filter, der soziales Handeln beruflich
bestraft. In die Gefahr, dass ihr weiches Herz sie dazu verleiten könnte, wegen anderer Menschen Abstriche an ihrem Erfolg zu
machen, kommen Narzissten schon wegen ihrer psychischen Disposition nicht.
Das heißt Narzissten haben bei unseren gesellschaftlichen Erfolgsregeln einfach ein paar, sozusagen "natürliche" Wettbewerbsvorteile. Für die Gemeinschaft ist negativ, dass Vorbild und Führung von
ihnen geprägt sind: Narzissten benutzen andere, sie manipulieren, lügen, um ihre Ziele zu erreichen, andere Werte sind nachranging zu ihren Vorteilen. Aber egal, ob in Partnerschaft,
Freundschaft, Familie oder als Gesellschaft: Wir sind darauf angewiesen, dass sich jeder gemeinsamen Werten verpflichtet fühlt - jenseits der eigenen Interessen.
Normalerweise ist eine Voraussetzung, um eine psychische Störung zu diagnostizieren, dass der Betreffende darunter leidet. Das ist bei Narzissmus (auch bei einigen anderen
Persönlichkeitsstrukturen wie die histrionische oder antisoziale) schwierig: Da leidet vor allem die Umwelt.
Aber wie kommt es, dass diese Menschen nicht merken, dass sie andere verletzen, sich viele von ihnen abwenden? Psychische Erkrankungen kann man danach unterscheiden, ob sie als ich-synton empfunden
werden. Ich-synton bedeutet: Ich empfinde die Störung nicht als Krankheit, sondern als Teil meiner einzigartigen Persönlichkeit. Der Narzisst denkt nicht: „Au weia, jetzt hab ich schon wieder einen
Freund durch meine Ichbezogenheit verloren, sondern er denkt: „Die anderen sind eben neidisch auf meinen Erfolg!“
Im Gegensatz dazu stehen Erkrankungen wie Burnout, die als ich-dyston wahrgenommen werden. Der Mensch merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er denkt sich nicht: „Ich weine nun mal viel, bin
antriebsgebremst und gehöre zu den ständig niedergeschlagenen Menschen mit vielen Schuldgefühlen!“. Nein er weiß, das bin nicht ich.
Deswegen unternehmen sehr viele Depressive etwas gegen ihre Erkrankung (solange sie es können), aber es passiert höchst selten, dass jemand kommt und sagt: „Ich habe den Verdacht ein Narzisst zu
sein, könnten wir das mal diagnostizieren…?“, wie es bei einem Burnout oder einer Panikstörung alltäglich vorkommt.
Denn wenn man glaubt, die anderen seien schuld, weil sie beispielsweise den eigenen Erfolg nicht ertragen können, wozu sollte man sich da therapieren lassen? Natürlich leiden auch Narzissten an ihrer
Erkrankung, aber dass sie es wahrnehmen, passiert meist erst spät, wenn sie älter sind und merken, dass sie bspw. trotz der vielen Bewunderer eigentlich doch sehr allein sind. Dass sie einfach kein
Mitgefühl empfinden können, auch wenn sie es geben möchten. Wie sollen sie für den anderen Empathie aufbringen, wo es ihnen doch gerade selbst so schlecht geht, weil er sich abwendet?
Man kann Empathie trainieren, das ist kein vom Himmel gefallenes Gottesurteil, ob man sich in andere hineinversetzen kann oder nicht, sondern eine Technik, die man erlernen kann. Angenehm ist das
nicht für den Betroffenen. Denn er muss in einem Empathietraining ständig dorthin, wohin er nicht möchte, nämlich weg von sich. Aber es funktioniert.
Es gibt in der Psychologie Alles-oder-Nichts-Kategorien wie krank und gesund. Sie werden anhand von festgelegten Diagnosekriterien ermittelt. Hat man eine als noch gesund geltende Grenze
überschritten ist man „krank“. Alles was darunter liegt, ist nichts.
Kategorien sind sinnvoll, damit die Einschätzung nicht nur von der subjektiven Meinung des jeweiligen Psychologen abhängt. Aber bei Persönlichkeitsstörungen gewinnt immer mehr an Bedeutung vorhandene
Strukturen an einer Skala zu betrachten, zu sagen, es sind narzisstische Merkmale vorhanden, beispielweise nicht in dem Ausmaß, dass man eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren müsste, aber für
die Persönlichkeitsstruktur aussagekräftig.
Und haben nicht die meisten von uns die Neigung sich über andere hinwegzusetzen, von anderen mehr zu nehmen als zu geben, freundlich zu sein, um etwas zu bekommen (= andere zu benutzen)? Wie oft hört
man Klagen, die Leute riefen nur an, um über sich zu reden und missbrauchten den anderen als Resonanzboden für die eigenen Angelegenheiten?
Was sagt es uns, dass in Talkrunden die Unfähigkeit vorherrscht dem anderen zuzuhören und ihn ausreden zu lassen, dass man sehr viel mehr inhaltslose Hahnenkämpfe sieht als geistreiche oder
wenigstens sachdienliche Bemerkungen?
Was bedeuten die vielen Fernsehshows, in denen Menschen nur berühmt werden wollen oder wenigstens mal im Fernsehen gewesen sein?
Und was ist der Trend ständig eigene Bilder in sozialen Netzwerken zu teilen anderes als Narzissmus? Dass ununterbrochen Selfies von sich posten etwas selbstverliebt ist, finden die meisten noch
offensichtlich. Aber wo ist der Unterschied dazu zu posten, was man gerade macht oder wo man ist als zu sagen: Ich bin an einem Ort, wo ihr nicht seid, ich treibe tolle Hobbys, erlebe tolle Sachen,
ich bin besonders?
Die Jagd in den sozialen Netzwerken nach der größten Aufmerksamkeit heißt sich möglichst wenig auf andere einzulassen und möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Man bietet Menschen die
„Freundschaft“ an, von denen man sich lediglich ein paar Likes erhofft. Man likt strategisch je nachdem, von wem man Vorteile erwartet, man likt, was einen gut dastehen lässt. Man zerrt um
Aufmerksamkeit um den Preis, den anderen zu benutzen, man ist nicht personen- oder inhaltsorientiert, sondern ich-orientiert.
Stars werden geboren mit Youtube-Videos, die keinen anderen Inhalt haben als sich zu präsentieren. Oft möglichst zickig oder provokativ. Was sagt das darüber, wie verbreitet Narzissmus in unserer
Gesellschaft ist?
Brechen wir mal die Regeln der gesellschaftlich- narzisstischen Muster. Man kann Talkshows, in denen Leute sich ständig gegenseitig unterbrechen, ausschalten und Prominente, die sich unsozial
verhalten, ignorieren, man kann Lebensläufe nach Leistung bewerten und nicht nach Einkommen, man kann in jedem persönlichen Gespräch fragen, wie es dem anderen geht und sich, auch wenn nur kurz, aber
aufmerksam auf sein Thema einlassen.
Vor Jahren las ich einer Zeitschrift im Wartezimmer bei Tipps zum eigenen Wohlbefinden: „Denken Sie täglich zehn Minuten nicht an sich! Sie werden sehen, wie gut es Ihnen tut!“
Das ist natürlich ein lustiges Paradoxon, fürs eigene Wohlbefinden nicht an sich zu denken und zehn Minuten sind bei 1.440 Minuten am Tag nicht sehr lang. Aber wenn man es probiert, sich zehn Minuten
ausschließlich auf eine Sache oder einen anderen Menschen zu konzentrieren, merkt man, wie oft man wieder zu sich zurückschweift. Probieren Sie es mal, dem anderen in jedem Gespräch richtig zuzuhören
und das auch umgekehrt einzufordern. Sich an anderer Leute Themen beteiligen wie es andere bei Ihren Themen tun oder Sie es sich wünschen. Versuchen Sie in jedem Konflikt, bei jeder Meinung, auch die
Perspektive des anderen einzunehmen.
Sie werden sehen, wie gut das Ihrem Umfeld tut J
Wir werden keine anderen als narzisstische und antisoziale Repräsentanten der Gesellschaft kriegen, wenn wir die Regeln nicht ändern. Denn es sind in der Essenz unsere Regeln. Die können wir ändern.
Und nur wir.