Die Evolution der Trauer
 

Ich wurde gebeten einen Blog über Verlust und Tod eines geliebten Menschen zu schreiben. Das war gut, denn ohne, dass eine sehr nette Klientin sich das gewünscht hat, hätte ich das Thema nicht gewählt.

Es lohnt sich wahrzunehmen, dass man unbewusst glaubt, es sei ein schwieriger Inhalt für einen Blog. Das ist der gleiche Mechanismus wie man gesellschaftlich die Trauernden lieber allein lässt und sie „nicht in ihrer Trauer stört“ oder sie überfordert mit der unsensiblen und zu frühzeitigen Aufforderung sich wieder dem Leben zuzuwenden.

Jeder sieht natürlich ein, dass Verluste unausweichlich sind, aber wir wollen Leben. Wachstum, Aufstieg, lachende Kinder, wir wollen Frühling, Herausforderungen, Kampf, Langeweile, Liebe, wir wollen alles, aber keinen Tod und Verlust. Der Tod gehört zum Leben, sagt man, aber so können wir das nicht empfinden.
Der Tod passt nicht ins Leben, er ist ein Fehler im System, ein unerträglicher Störfall.

 

Evolutionspsychologisch wird die Trauerreaktion als Aufforderung verstanden, sich dem Trauernden zuzuwenden, um die entstandene Lücke zu schließen. Damit die Gruppe nicht auseinanderdriftet, sondern als lebendige handlungsfähige Einheit erhalten bleibt.

Stellt man sich die Gruppe, in die eine Lücke gerissen wurde, bildlich vor, sieht man, dass es nichts nützt, wenn sich nur ein oder zwei näher an den Trauernden stellen, weil dann ein Loch zu anderen Mitgliedern der Gruppe aufgeht. Es müssen sich alle neu ausrichten. Besonders deutlich wird das an Familien.

 

Es ist kein Zufall, dass oft nach einem Tod, ja sogar schon bei der Vorbereitung der Beerdigung oder beim Umgang mit der Hinterlassenschaft Konflikte entstehen. Der Verschiedene hatte möglicherweise eine ausgleichende, vermittelnde Funktion. Oder er hat die Regeln aufgestellt, bei den klassischen Erbschaftstreitigkeiten fehlt plötzlich der Patriarch, der alles bestimmt hat. Und die Kinder müssen nun jemanden anerkennen, der diese Lücke ausfüllt oder eine neue, demokratischere Form des Umgangs miteinander finden. Das bedeutet, dass sich alle bewegen müssen, will man als Familie weiter bestehen.

 

Viele Trauernde haben das Gefühl, Schönheit, Glück, Lebensqualität sind ohne den Verschiedenen für immer dahin. Ohne die langen Gespräche mit ihm, sein Kochen, seinen Sinn für Ästhetik oder die Fähigkeit einen angenehmen Raum zu schaffen, die gemeinsamen Reisen. Gleichzeitig entstehen praktische Defizite, die Frau hat sich immer um die sozialen Kontakte gekümmert, der Mann hat die  Bürokratie erledigt. Mitten in der Trauerreaktion die von den Symptomen her so schwer wie eine klinische Depression sind und lähmend wirken, kommt auch noch faktische Überforderung.

Auch als Nachbar kann man anbieten, bei der Bürokratie zu helfen. Alte Männer wissen oft nicht, wie man eine Waschmaschine bedient, für manche Hinterbliebene wird der Einkauf zum Problem. Man muss die Hilfe konkret anbieten. Als Trauernder ist man in seinem Selbstverständnis so erschüttert, dass man nicht weiß, um was man bitten soll. Alles ist wie gelähmt, sinnlos und schmerzhaft. Aber wenn man das erste Mal denkt, ich könnte doch mal wieder… an den See oder ins Café gehen beispielsweise…. dann sollte man es auch tun.

Wenn sich die Tochter denkt, eigentlich könnte ich auch Familienausflüge organisieren und merkt dabei vielleicht, dass sie ganz der Vater ist, was den Sinn für Geselligkeit und das Organisationstalent betrifft, dann sollte sie es tun. Der Sohn redet plötzlich mit seinem Bruder, mit dem er bis dahin nur um die Anerkennung des Vaters konkurrierte. Die Frau, die ganz auf die Versorgung des Mannes ausgerichtet war, hat plötzlich so viele Kontakte wie eine 20-Jährige.

Denn so schmerzhaft und unerträglich die Lücke ist, sie zwingt einen nicht nur zu Veränderungen, sie schafft auch Raum. Jeder hat noch mal eine Chance eine neue Aufgabe zu übernehmen, ein Talent auszuleben, das bis dahin niemand brauchte, man hat nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Chance dem anderen auf einer neuen Ebene zu begegnen.

Oft hört man, dass jemand etwas verwundert sagt: „Irgendwie hat uns sein Tod einander näher gebracht…“

 

Bewegen wir uns. Als Familie, als Nachbarschaft, als Gesellschaft… aufeinander zu.

 

 

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© Christine Quindeau